P. Usseglio

Niederbauen Kulm, Emmetten

Donnerstag 21.05.2020, Auffahrt und 2 Tage perfektes Wetter sind angesagt.

Seit Wochen wollen Ella und ich in den Bergen übernachten und jetzt scheint es endlich soweit zu sein. Gestern haben wir unsere Schlafsäcke gekauft und die Vorfreude steigt gewaltig – Material und Motivation sind vorhanden und es gibt keine Ausreden mehr!

Aber wohin soll es diesmal gehen?
Eines ist klar, unser Übernachtungsort soll eine schöne Aussicht auf einen See haben. Die Vorschläge und Diskussionen gehen los: Vom Bündner- über das Glarnerland ist alles dabei. Am Schluss sind wir uns einig und beschliessen, es soll der Niederbauen Kulm am Vierwaldstättersee sein!

Gut, nun heisst es packen und ich merke schnell, wie meine Zweifel wieder «Hallo» sagen. Verdammt, ist der Rucksack schwer! OK gut, sag ich mir, vielleicht muss ich ja nicht gleich drei Objektive mitnehmen. Ich reduziere die Kameraausrüstung auf ein Minimum. Der Rucksack (70+10l) bleibt trotzdem schwer. Egal, gemäss Karte ist der Aufstieg nicht sonderlich lang (ja, ich habe echt schlecht recherchiert und wieder einmal auf mein Bauchgefühl gehört).

13.00 Uhr, ich treffe Ella in Zürich und wir essen noch was Kleines zur Stärkung. Leider merken wir auch hier schnell, dass nicht alles in ihren Rucksack passt und sie ebenfalls Gepäck reduzieren muss. Okay, Rucksack auspacken, Selektion vornehmen und nochmals einpacken (aka reinstopfen). Wir blicken uns an und fühlen uns wie die absoluten Anfänger. Nach einem ausgiebigen Lachanfall um unsere Unsicherheit zu übertönen, geht es dann endlich los Richtung Seelisberg.

Ellas Mitbewohner meinte noch der Aufstieg von Seelisberg sei «mega schön und voll easy», (Zitat.) Mittlerweile ist es 16.30 Uhr und wir parken unser Auto auf dem Parkplatz beim Restaurant Träumli. Die Terrasse ist voll mit Leuten, also ja keine Schwäche zeigen beim Schultern des Rucksackes;)
Der Blick nach oben zum Niederbauen ist in Anbetracht des übertrieben schweren Gepäcks ziemlich erschreckend. Naja…Rückzieher ist jetzt schwierig. Los gehts und nach ca. 10min folgt der nächste Lachanfall, als wir nach nur 300m wegen der Schwere des Rucksacks jammern. Wir realisieren, dass wir so schweres Gepäck einfach noch nicht gewohnt sind und einigen uns auf ein «Wir versuchen es».

Da wegen des Corona-Lockdowns keine Bahnen fahren, müssen wir den Aufstieg komplett ohne Hilfe machen. Erstes Ziel ist die Alp Weid auf ca. halbem Weg zum Gipfel.
Es geht schnell mal bergauf und die ersten Meter sind echt fies, der Körper rebelliert! Die geniale Aussicht entschädigt jedoch enorm und wir gehen weiter. Nach ca. 1.5h kommen wir bei der Alp an und gönnen uns eine kleine Pause. Aus der kleinen Pause werden leider ganze 30min «Körperfahrherunter»- Pause. Als wir wieder weitergehen, ist der Körper im Relax-Modus und der Rucksack gefühlte 5 Mal schwerer. Shit, das war ein Fehler!

Wir kämpfen uns im Schneckentempo weiter hoch und die Kraft kommt langsam zurück. Eine Steinbock-Familie, welche uns über den Weg läuft, gibt uns sofort einen Extra-Motivationsschub! Mega Happy! Wir laufen weiter und der Weg wird immer steiniger und steiler… bis sich nach der nächsten Kurve eine steile Felswand vor uns eröffnet. Ein Wanderwegweiser zeigt die Richtung an. Bisher war der Wanderweg mit weiss-rot-weiss (Bergwanderweg) markiert, nun kommt plötzlich eine neue Farbe ins Spiel. Blau. Was ist denn bitte weiss-blau-weiss??? Wir schauen uns fragend an und folgen dem Wegweiser Richtung Niederbauen Kulm. Nach ein paar Meter erklärt uns eine Tafel die Farbkombo: Weiss-Blau-Weiss steht für «Alpinwanderweg». Okay. Nice.

Wir müssen unweigerlich an Ellas Mitbewohner denken. Von wegen easy Aufstieg, (Btw, danke dafür Phil). In der Ferne sehen wir ein Loch in der Felswand und ahnen, dass wir irgendwie wohl da durch müssen. In einem Anflug von Grössenwahn entscheiden wir uns weiterzugehen. Es wird immer steiniger und steiler. Zugegeben, an gewissen Stellen habe ich ein (sehr) mulmiges Gefühl. Schritt für Schritt kämpfen wir uns zur Felswand vor. Für den letzten Abschnitt stehen Stahlseile an den Felswänden zur Sicherung bereit. Durch eine Leiter geht es hoch durch das Felsloch. Mein riesiger Rucksack bleibt immer wieder an der Felswdecke hängen, was das Leiter-Besteigen zur Herausforderung macht. Wir kriechen aus dem Felsloch und kämpfen uns die restlichen Höhenmeter im steilen Zick Zack bergauf. Ein Mix aus Adrenalin, Respekt und leichtes Unwohlsein beschreibt meine Gemütslage für diesen Abschnitt ziemlich passend. Doch die Strapazen lohnen sich. In dem Moment wo wir endlich oben ankommen, ist der anstrengende Aufstieg vergessen. Die Aussicht auf die Berglandschaft, auf die umliegenden Alpen und den Vierwaldstättersee ist einfach nur unglaublich. Ich strahle Ella an. «WOW, wir haben es geschafft!». Überglücklich laufen wir zum höchsten Punkt auf dem Plateau und erblicken immer mehr Zelte. Offenbar hatten wir nicht als Einzige die Super Idee auf den Niederbauen Zelten zu gehen. Wir finden unsere Schlafstelle (mit Ausrichtung Sonnenaufgang) und bauen unser Lager auf. Erschöpft aber glücklich beissen wir in unsere Brote und geniessen den wunderschönen Sonnenuntergang.

Die Stimmung am Himmel wechselt von goldig zu violett. Leider ändert sich auch schlagartig die Temperatur. Sobald die Sonne untergegangen ist, wird es kalt. (Notiz an mich selbst: Sonne weg = kalt! Aka, wärmere Jacke mitnehmen).

Trotz mehreren Schichten an Kleidung realisieren wir schnell, weshalb alle anderen eine Daunenjacke tragen. Naja, Wandern ist ein stetiges Lernen!
Wir gehen uns im Zelt aufwärmen, um dann für den Sternenhimmel ready zu sein. Nur kurz in den Schlafsack… und «PENG» weg waren wir. Ich weiss nicht wann ich das letzte mal so schnell eingepennt bin. Um Punkt Mitternacht weckt mich meine Blase und ich wecke Ella. Wir schleichen uns aus dem Zelt und sind sprachlos. Der Himmel ist übersäht mit funkelnden Sternen. Die Abwesenheit des Mondes lässt uns sogar die Milchstrasse problemlos erkennen. Wir sind überwältigt und berührt und möchten am liebsten die ganze Nacht draussen liegen und die Sterne beobachten. Dann erinnern wir uns, dass wir KEINE Daunenjacken dabei haben und ziehen uns in die Wärme des Schlafsacks zurück.

Um 05.00 Uhr klingelt mein Wecker. Ich möchte den Sonnenaufgang auf keinen Fall verpassen. Ich investiere 2 Minuten um mich anzuziehen und die Kamera vorzubereiten, und ca. 10, um Ella zu wecken und sie zu überzeugen aus dem warmen Schlafsack zu steigen. Schlussendlich habe ich Erfolg und wir laufen mit Kamera und Stativ geschultert Richtung Felskante. Wir geniessen einfach nur den Moment, sind glücklich und dankbar hier oben zu sein. Das Gefühl, anwesend zu sein, wenn der Tag zum Leben erwacht, ist einfach etwas vom Schönsten und lässt das frühe Aufstehen schnell vergessen.

Nach dem Sonnenaufgang geht es zurück zum Zelt, um zu Frühstücken und sich bei einer Tasse Tee aufzuwärmen. Noch etwas relaxen und schliesslich gemütlich mit dem Zusammenpacken beginnen. Beide haben etwas lädierte Schlüsselbeine von dem schweren Gepäck und die Lust den Rucksack erneut für den Abstieg zu Schultern hält sich definitiv in Grenzen. Naja, was muss, das muss.

Wir entscheiden uns, den Berg Richtung Emmetten abzusteigen. Wunderschön und im Verhältnis zum Aufstieg ziemlich human geht es abwärts. Nach einer Stunde erreichen wir die Alp Tritt. Ein Wegweiser gibt noch 2,5h Wanderzeit bis nach Emmetten an. Dort möchten wir den Bus zurück nach Seelisberg nehmen. «Easy!», denken wir uns. Leider haben wir uns zu früh gefreut, denn auch auf dieser Seite wird es steil. Eine schöne, aber steile Strecke führt durch den Wald nach Emmetten und unsere Knie beginnen zu schmerzen. Jedes Jammern und Fluchen hilft da nicht, wir müssen da durch. Und es scheint einfach nie zu enden. Nach jeder Kurve geht es noch weiter und weiter. Verdammt. Eigentlich wollen wir ja noch zum Klausenpass und dort eine kleine Wanderung machen, doch dieses Vorhaben stirbt mit jedem Schritt ein bisschen mehr. Unten angekommen fragen wir uns, wie wir überhaupt auf die Idee kommen konnten, nach diesem Abstieg nochmals wandern zu gehen? Wir schleichen zur Busstation und sind einfach nur erleichtert, nicht mehr Bergab laufen zu müssen. Der Bus bringt uns zurück zum Restaurant Träumli, wo wir einen leckeren Salat essen und die letzten Stunden Revue passieren lassen. Wir fühlen uns stolz und glücklich, endlich einen Nacht in den Bergen verbracht zu haben.

Auf der Autofahrt nach Hause betrachten wir die imposante Bergwelt rund um den Vierwaldstättersee und erspähen die Kandidaten für unsere nächste Tour.

Tipp: Der Weg von Seelisberg zum Niederbauen ist wunderschön, erfordert jedoch Trittsicherheit und gutes Schuhwerk im oberen Abschnitt!

Comments

  • Brendon Mikronis

    15. Oktober 2020

    Great story. I had some similar experiences in Vallis this summer… thanks for sharing your adventure!

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