Alp Sigel, Appenzell
Sonntagmittag, der 17.Mai 2020.
Es ist heiss. Ziemlich heiss für einen Mai-Tag. Aufgrund des Corona-Lockdowns sind noch alle Badis zu. Patrick und ich beschliessen deshalb an einen See zu fahren. Doch welcher soll es werden? Am liebsten einer mit imposanter Alpenkulisse. Schnell sind wir uns einig und beschliessen zum Seealpsee im schönen Appenzellerland zu fahren. Von Wasserauen aus soll es ein einstündiger Spaziergang sein. «Easy», denken wir uns. Motiviert packen wir Proviant und Picknickdecke in unseren Rucksack und entscheiden uns für das komplette Wanderoutift, Wanderschuhe inklusive- nur so für den Fall der Fälle. (Rückblickend eine sehr weise Entscheidung).
Zuversichtlich und voller Freude auf das kühle Seewasser fahren wir los. Als wir jedoch in Wasserauen ankommen und die Menschenmengen sehen, sinkt unsere Stimmung ein bisschen. Ein bisschen sehr. In ganz Wasserauen hat es KEINEN einzigen Parkplatz mehr. Hunderte Menschen laufen die Strasse entlang Richtung Seealpsee, als ob da oben ein Black Friday Ausverkauf bei Media Markt stattfinden würde.
Resigniert fahren wir wieder weg. «Okay, dann halt nicht», denk ich mir und überlege wo wir sonst hin könnten. Ein Blick auf Google Maps und ich schlage vor, von der anderen Seite aus zu laufen. Zwischen Wasserauen und Brülisau gibt es nämlich laut Karte drei Seen: Den Seealpsee, den Fälensee und den Sämtisersee. Patrick willigt ein und wir ändern den Kurs Richtung Brülisau.
Leider hat es auch in Brülisau fast keine Parkplätze mehr. Wir wollen es trotzdem wagen und parken unser Auto irgendwo beim Dorfausgang. Als wir aus dem Wagen aussteigen, sehen wir, wie Menschen in Sneakers und Hotpants eine Wiese hochlaufen. Wir kommen uns in unserem Wanderoutfit ein bisschen Overdressed vor und Patrick meint, wir sollen die Wanderstöcke mal im Kofferraum lassen. Gesagt getan und wir laufen dieselbe Richtung wie die Sneakers-Träger.
Es wird schnell steil. Nach ca 30 Minuten erschleicht mich das mulmige Gefühl, dass wir irgendwie in die Falsche Richtung laufen. Ein Blick auf Google Maps bestätigt meine Vorahnung. Tatsächlich, der schnellste Weg zum Sämitsersee ist auf der anderen Seite des Tals. Dieser Pfad führt zur Alp Sigel. Wo auch immer das ist. Ich blicke zu Patrick, der jedoch blickt stumm geradeaus. Ich folge seinem Blick und weiss plötzlich was in seinem Kopf vorgeht. Wenn wir diesem Weg weiter folgen, müssen wir da hoch. Mit «da hoch», meine ich eine ziemlich imposante und sehr steil aussehende Felswand. Der Wanderweg verläuft im Zickzack zur Felswand und verschwindet dann in einer Felsritze ins Unbekannte. Damn.
Während ich einen Rückzieher in Erwägung ziehe, sehe ich eine Mischung aus Vorfreude, Respekt und Adrenalin in Patricks Gesichtsausdruck. Ich weiss, dass er UNBEDINGT wissen muss was sich hinter dieser Felsritze verbirgt und wie genau man da hochkommt. Okay, jetzt Schwäche zeigen liegt nicht drin, sonst wirft er mir noch vor ich hätte ihn davor bewahrt das Mysterium der Felsritze zu lösen. Ich erkläre mich bereit weiter zu gehen, unter der Prämisse, dass ich jederzeit umkehren kann. «Sure», sagt Patrick und ich bin mir nicht so sicher wie ernst er das mit dem Umkehren meint.
Wir laufen weiter und schon bald wird es steiler. Und steiler. Ich schwitze, spüre meine Waden und muss alle paar Meter eine kurze Pause einlegen um in der Sonne nicht zu kollabieren. Hinter mir höre ich Patrick leise fluchen: «So viel zu Wanderstöcke im Auto lassen!». Zum Glück habe ich meine selbstgemachten Superfood Müsliriegel dabei. Dank dem Zuckerflash habe ich genügend Energie um weiter zu laufen und Patrick kann mit vollem Mund nicht mehr fluchen. Wir sind der Felswand sehr nah und ich will jetzt auch unbedingt wissen, was sich hinter dem Spalt verbirgt.
Die letzten Meter sind schon heavy. Gerade als wir nochmals über den steilen Aufstieg klagen, läuft uns eine Familie mit kleinen Kindern entgegen. Irgendwie ist es wohl ein ungeschriebenes Wandergesetz, dass man immer dann, wenn man jammern möchte, Familien mit Kleinkindern oder Senioren begegnet. Diese sind dann auch immer schneller, weniger verschwitzt und irgendwie viel besser gelaunt als du.
Nur noch ein paar Meter und wir stehen endlich am Ende des Wanderweges. Wortwörtlich, denn hinter der Felsritze verbirgt sich ein Bügelsteig. Jetzt bin ich es, die einen Adrenalinrausch erlebt. Wir steigen die «Treppen» im Fels zur Spitze und hoch und kommen endlich oben an. Naja fast. Zum Gipfel sind es nämlich noch 20 Minuten Spaziergang über ein Gras-Hochplateau.
Als wir jedoch auf dem höchsten Punkt der Alp Sigel stehen und die gewaltige Aussicht der Berglandschaft sehen, ist jede Anstrengung sofort vergessen. Wie immer beim Wandern. Den ganzen Weg nach oben fragt man sich «warum zur Hölle tue ich mir das eigentlich freiwillig an??». Gelangt man jedoch zum Ziel, ist man einfach nur berauscht und beeindruckt von dem wunderschönen Panorama.
Vom Gipfel der Alp Sigel erblicken wir den Seealpsee, den Sämtisersee, den hohen Kasten und den Säntis (und viele andere Berge deren Namen ich nicht kenne). Das ist also das bekannte Alpstein Gebirge. Wunderschön! Wir verstehen den Hype absolut. Patrick findet das Gipfelbuch und wir schreiben unseren ersten gemeinsamen Gipfeleintrag.
Wir bleiben eine ganze Weile dort oben, essen, füttern anmutige Bergdohlen, machen Bilder und vergessen die Zeit. Plötzlich ist es halb sieben. «Okay», sagt Patrick, «wir sollten schleunigst hier runter bevor es dunkel wird!» Ich stimme ihm voll und ganz zu, auch weil die Bergbahnen wegen des Covid-19 Lockdowns noch nicht in Betrieb sind und wir definitiv runter laufen müssen. Da wir beide nur so mässig Lust haben, den steilen Berghang wieder runter zu wandern, laufen wir Richtung Sämtisersee zum Berggasthaus Plattenbödeli. Laut Karte gelangen wir von da wieder im Tal Brülisau.
Von der Alp Sigel zum Plattenbödeli ist es ein schöner Weg nach unten. Durch das Hochplateau in ein Waldabschnitt hinein. Beim Gasthaus machen wir einen kurzen Halt und gönnen uns eine leckere Gerstensuppe. Die herzigen Esel, die zum Gasthaus gehören kriegen auch noch ein paar Streicheleinheiten und unsere letzten Äpfel.
Die letzte Etappe vom Plattenbödeli nach Brülisau ist anstrengend steil. Unsere lädierten Knie schmerzen und wir seufzen vor Erleichterung, als nach einer Stunde fast senkrechtes runterlaufen, der Pfad endlich geradeaus verläuft. Wir sind müde, aber glücklich. Als wir uns nochmals umdrehen und den von der goldigen Abendsonne beleuchteten Berg sehen, fühlen wir uns mächtig stolz. Eigentlich wollten wir ja nur schnell zum See. Am Schluss wurde eine Gipfelwanderung draus.
Auch gut. Sogar sehr gut.
Tipp: Wanderstöcke mitnehmen. Auch wenn Leute mit Sneakers entgegen laufen.
Tipp 2: Das Auto NICHT wie wir irgendwo beim Dorfausgang hinstellen. Ausser man möchte eine Busse.
Tipp 3: Falls ihr im Gipfelbuch unseren Eintrag findet…schickt uns ein Foto!;)